(21.–40. Tausend. Verlag des Volksbildungsvereins zu Wiesbaden, 1917)
Aber eine Lerche, die tirilierend über einem Buchweizenfelde im Blauen hing, ließ das zischende Geräusch aus dem Kotten vergessen, und es wurde Gottfried 47 ganz seltsam und traumhaft zu Sinn, und er sah das Bild wieder vor sich, wie die schlanke Mädchengestalt da unten sich über das Felsenbrünnchen neigte und wie ihr Arm so weiß schimmerte, als sie ihm Wasser schöpfen wollte, und wie ihr rotes Haar funkelte und sich wunderschön abhob vor dem Grün der breiten Farnwedel. Und da kam ihm ein Volkslied in den Sinn, das die Mägde oft sangen, wenn sie zum Schnippelabend zusammenkamen, und er summte es ganz leise vor sich hin, als er auf dem verwachsenen Wege zwischen dem blühenden Buchweizenfelde und dem Eichengestrüpp des Buschwaldes dahinschritt, indes die Abendsonne fern im Westen über den Hügeln das breite Band des Rheines aufleuchten ließ:
Ritt einst wohl in die Welt hinein
Von hohem Schloss ein Königssohn:
„Nun such ich mir ein Mägdelein
Mit einer rot rot-güldnen Kron.
Will eine Kön'gin sein im Land,
Muss sie ihr rotes Krönlein han
Und eine schlohweiße weiße Hand,
Fünf weiße Fingerlein daran.“
Vor mancher Burg sein Horn erschallt,
Und suchte wohl in Heid und Sand,
Bis er im grün vielgrünen Wald
Im Bettelkleid ein Mägdlein fand.
„Wer bist du?“ frug er sie sogleich.
„Dein Leib ist weiß, dein Äuglein klar.“
Da lacht sie: „All die ist mein Reich,
Die Kron mein rot rot-golden Haar.“
„Ach, deine Kron ist herrlich, traun,
Dein Röcklein schenk dem Bettelweib,
Und meinen Mantel sammetbraun
Schlag ich um deinen weißen Leib.
Vieltraute mein, Vielschönste mein,
Schwing, schwing dich auf mein schwarzes Ross.
So reiten wir im Sonnenschein
Zur Hochzeit in mein Königsschloss.
48 Andern Morgens kam das Königs Gusken ins Kontor der Firma Daniel Küllenberg und Sohn und frug nach den Griffen, die sie nähen sollte. Ein Kommis zählte sie ihr mit großer Beflissenheit in ihren Weidenkorb. Gottfried kümmerte sich scheinbar nicht um die Sache. Er hatte ihr nur zugenickt, als sie eintrat, und blickte dann wieder in das Lieferbuch vor sich, in dem er eine neue Seite mit einem schönen, neuen Titelkopf kalligraphisch ausgestattet hatte. Der lautete: Auguste König zu Königskotten. Darunter stand: Säbelgriffe zu nähen.
Als dann aber der junge Kommis mit dem Abzählen fertig war, trat Gottfried heran und befahl ihm, die Lieferung einzutragen, indes er sich ein ganz klein wenig befangen an das Mädchen wandte, sie möge nur die Arbeit bald abliefern, dann solle es an neuen Aufträgen nicht fehlen. Es gäbe auf Küllenbergshof immer etwas zu tun.
„Ich dank euch auch, Herr Küllenberg,“ sagte sie und wurde ein wenig rot. „Ich denk, ihr werdet mit mir zufrieden sein.“
Sie legte sich den bestickten Wollkranz aufs Haar und wollte das Lieferkörbchen hinaufheben, aber es war ihr zu schwer. Da öffnete er das Pförtchen, das den Raum für die Lieferer vom Kontor trennte, packte den Korb und hob ihn ihr auf das Haupt, machte ihr auch die Tür auf, die sie mit einem zierlichen Knix passierte, denn ohne den hätte der Korb oben anstoßen müssen.
Alles das war ganz unauffällig, und mehr als ein Dutzend Arbeiterfrauen und -töchter kamen wohl unter Tags, um in gleicher Weise etwas abzuliefern oder zu holen: schwarze Klingen, gereidete Messer und Gabeln und noch mancherlei anderes, was die Firma an Solinger Stahlwaren führte und durch 49 die Hausindustrie fertigmachen ließ. Aber Küllenberg senior hatte die neue Erscheinung doch bemerkt, und beim Mittagessen frug er den Sohn: „Wat war er denn dat für ein', die Fussige, die heute früh die Griffe holte?“
„Et war et Königs Gusken, dat Mündel vom Kirbachs Welm,“ antwortete Gottfried, als wäre ihm die Sache sehr gleichgültig. „Sie ist vom Königskotten unten bei Flückshaus.“
„So, so. Ich bin nie in die Gegend gekommen. Es wird wohl so 'nen Hippenstall sein, der Kotten.“
„Ja, er verfällt ein bißken, weil der alte König vor ein paar Jahren gestorben ist und wohl nit viel übrig blieb.“
„Hm ja,“ brummte der Alte, „ich hab' ihn doch gekannt, den Königs Oberam. Er war mit in der Schuldeputation der Bürgermeisterei, ein stiller, vernünftiger Mann. Schad, dat he tot is. Aber die Rothaarige, die er da hinterlassen hat, die kann sich sehen lassen.“
„Na, na, Vatter,“ dämpfte Frau Küllenberg seinen Enthusiasmus, „die Roten haben immer so viel Sommerspronzeln, und dat is doch nix Schönes.“
„Aber wenn sie keine Spronzeln haben, dann ist ihre Haut wie so 'ne Kirschblüte, un dat Gusken hat keine Spronzeln,“ erklärte Gottfried.
„Du scheinst sie ja genau drauf angesehen zu haben,“ meinte die Alte. „Aber et is ganz egal. Ich sah sie da mit ihren grünen Blötschkern und dem Liefermängken auf dem roten Kop durch die Wiese heimgehen. Sie hatte dat Kleid ein bißken aufgeschürzt un ließ den Arm wat schlenkern. Den anderen hatte sie in die Hüfte gestützt. So ging sie daher wie eine Königin. Et war wahrhaftig der Mühe wert. Wahrhaftig, wie 'ne junge Königin.“ 50 „Wie 'ne Kottenprinzessin, sag' lieber,“ spottete Frau Küllenberg ein wenig pikiert. „Regt euch nur nit auf über so'n Schleifersweit.“
„So wat hat ja nix auf sich,“ tröstete der Fabrikant. „Aber wat schön is, dat bleibt schön, un ich mein, wenn dat Kradepohls Irmgard mit ihren zwanzigtausend Talern, die et mitkriegt, so aussäh wie die – na also, wie die Kottenprinzess – dann tät sich unser Gottfried wohl nit lang' besinnen.“
„So?“ sagte der junge Kaufmann. „So? Dann müsst sie sich aber auch innerlich gehörig umkrämpeln. Dat sie in Lüttich in der Pension war un en bißken Fanzösisch parlieren kann und wat auf dem Klavier klimpern kann, dat macht bei mir den Kohl noch lan' nit fett.“
„Aber das Geld und dat sie von guter Herkunft ist, dat wär denn doch wohl zu bedenken,“ meinte der Fabrikant.
„Ihre Großvatter war noch ene ganz kleine Federmesserreider,“ fiel die Frau ein. Und Gottfried ergänzte: „In dem Punkt sind wir auch noch von manchem Vorurteil befangen. Wenn ein Mädchen nur brav ist und tüchtig, un sie gefällt einem und ist von ordentlichen Leuten, dann ...“
„Würd' sie doch nur über die Schulter angesehen, wenn man sie heiraten tät. Und zu einem Kaffeeklatsch der Honoratioren würd' sie gewiss nit eingeladen,“ lachte der Alte.
„De Jung hat ganz recht,“ stimmte Frau Küllenberg ihrem Sohne zu. „Et is ja immer dat beste, wenn man in seinem Stande bleibt, aber ich will schon froh sein, wenn mir der Gottfried endlich überhaupt mal ein' brächt'. Du würdest ja schon wissen, was du tätst. Jung, siehste, wenn ich denken müsst, dat ich nicht mal 51 Großmutter würd', et wär mir ordentlich wie ene Schand.“
„Ja, Jung, et muss emal wat geschehn,“ stimmte der Alte bei. „Et wär ein Skandal für die Menschheit, wenn mit dir die Küllenbergs aussterben täten.“