(21.–40. Tausend. Verlag des Volksbildungsvereins zu Wiesbaden, 1917)
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In der Wirtschaft zur Sandfuhr, die Wochentags nur von den Fuhrleuten in Anspruch genommen wurde, die aus den nahegelegenen Sandgruben ihre Ladungen für die Bauten holten, hatte sich am Sonntag nachmittag eine große Schar von Gästen zusammengefunden. Das junge Volk tanzte in dem kleinen Saal, aber die meisten saßen im Garten unter den Bäumen, rauchend, schwatzend, trinkend. Kinder tollten umher, ein paar Köter bissen sich, aber sonst herrschte keine ungebührliche Ausgelassenheit, und es war ein reputierliches Vergnügen.
64 Gottfried Küllenberg hatte sich schon frühzeitig eingestellt und ein Tischchen in einer kleinen Laube belegt, von der aus er weit in das Gelände hinaus sehen konnte. Der Wirt, der Webers Kaubes, sehr geschmeichelt über den vornehmen Besuch, bemühte sich selbst um ihn. Er erwarte wohl noch einen Freund, mit dem er früher ja auch schon die Sandfuhr besucht habe, meinte er.
„Ach nee,“ sagte Gottfried und wurde ein wenig verlegen. Diesmal wäre er allein. Aber es könnte ja doch wohl noch etwas Bekanntes kommen, und für den Fall wollte er den Laubensitz gern ganz in Beschlag nehmen. Es wäre ja doch so wie so höchstens für drei oder vier Platz drin.
Er bestellte sich ein Glas Bier, zündete sich eine Zigarre an und blickte mit innerer Unruhe nach der Richtung hinaus, von der das Königs Gusken kommen musste. Es war eigentlich eine tolle Geschichte, die er da angefangen hatte. Ein paarmal war er darauf und daran, zum Königskotten hinauszulaufen und dem Mädchen zu sagen, wie sie das aufgefasst habe, so sei es doch das Richtige, und so wollten sie lieber den Besuch des Wirtshauses unterlassen. Aber dann bäumte sich sein Stolz oder sein Trotz wieder gegen solch ängstliches Bedenken. Und nun saß er da, etwas seitab von dem allgemeinen Trubel, und fieberte vor Erwartung, ob das Gusken kommen würde, oder ob sie doch noch zurückgeschreckt sei.
Da sah er endlich über die Felder her zwei junge Mädchen herschreiten. Eine Ahnung sagte ihm, dass die Schlankere von beiden die Erwartete sei. Ein Herzklopfen fast überkam ihn, und nun stand er auf und schlenderte wie absichtslos den beiden entgegen. Er hatte sich nicht getäuscht.
65 „Ah, da ist ja auch dat Königs Gusken,“ sagte er wie überrascht, als ihm die beiden nahe gekommen waren. „Dat is aber recht, dat sie sich auch des Sonntags einmal ein Pläsier vergönnt, nachdem sie in der Woche so fleißig Griffe für dir Firma Daniel Küllenberg und Sohn genäht hat.“
„Ja, ich dacht' mir dat hier auch mal anzusehen an der Sandfuhr,“ antwortete Gusken in großer Verwirrung. „Hier, das Klaubergs Millchen, dat nah bei uns wohnt, wollt' hier tanzen gehn, und da hab ich mich ihm angeschlossen.“
„Na, dann machen mir die Damen vielleicht das Vergnügen, ein Tässchen Kaffee mit mir zu trinken?“ fragte er, sicherer werdend. Aber das Millchen erklärte, sie habe dem Schimmelbusch August versprochen, mit ihm zu tanzen, und deshalb müsste sie für den Kaffee danken. Aber dat Gusken, das könnt schon einmal eine Tasse des feinen Herrn Arbeitgeber nehmen. Dabei wäre gewiss nichts Arges, und es wäre nur eine Ehre für sie.
Sie hatte es offenbar eilig, zum Tanz zu kommen, und verabschiedete sich schnell.
„Ich bin mit ihr gegangen, weil et mir doch zu genierlich war, allein hierher zu kommen,“ sagte Gusken verlegen. „Ich habe auch ein paarmal gedacht, ob ich doch nicht lieber zu Haus geblieben wär', aber da ich et doch einmal versprochen hatt', so ...“
„Hauptsache ist, dat du jetzt da bist. Un staats siehst du aus, wahrhaftig, ganz staats. Und gar eine Uhr hast du an,“ verwunderte er sich.
„Sie stammt noch von meiner Mutter selig. Sie starb, als ich grad konfirmiert war. Sie hat die Uhr einmal von ihrer Herrschaft gekriegt, wo sie früher diente. Es is nun ein einfach' silbern Ührchen un et 66 geht schon lang' nit mehr, aber wenn ich et bei mir trag, is et mir immer, als hätt' ich die Mutter an der Hand.
„Ja, ja, dann musst du et recht in Ehren halten, wenn et auch nit mehr geht. Aber man wird et schon noch einmal zum Gehen bringen können. Na, und siehste, wenn du jetzt mit mir dort in die Laube gehst, und wir unseren Kaffee trinken, dann wollen wir denken, deine Mutter und deine Vatter, die säßen auch dabei, wenn wie sie auch nit sehen, un dann sollen sie Freud daran haben, Gusken, dat wir zwei uns so gut miteinander vertragen. Wat meinst du dazu?“
Er sagte das so herzlich, dass alles Bangen aus ihr verschwand, und so folgte sie ihm durch den Garten, wo sie kaum bemerkt wurden von den anderen Gästen, die meistens unter den Bäumen vor dem Hause saßen, und Gottfried ließ von der aufwartenden Magd Kaffee und Kuchen bringen.
Guske musste einschenken, aber er sah, dass ihre Hand dabei zitterte. Die ganze Sache war ihr doch etwas unbehaglich. Auch von dem Kuchen wagte sie kaum zu essen. Und als Gottfried sie frug, ob sie nicht einmal mit ihm tanzen wollte, bat sie ängstlich: „Ach nein, Herr Küllenberg, nein lieber nicht. Nein, wir wollen nicht unter die Leut gehen, und ich kann wohl auch nit gut tanzen, weil ich dat noch fast nie getan hab.“
Es war fast peinlich, dies Beisammensein in der luftigen Laube, um die Feuerbohnen so schön in die Höhe rankten, und vor der auf ein paar Beeten Rosen und Nelken blühten. Gottfried empfand es nicht weniger als sie, und so nahm er plötzlich ihre Rechte, drückte sie und sagte: „Du arm Dingesken, nu hab dich doch in die Unruh' hineingebracht, und wir können 67uns nun alle zwei nit draus zurechtfinden. Et wird dat Beste sein, wenn wir von hier fortgehen und wenig durch die Felder un durch die Büsche spazieren. Dann wird dir wieder freier um dat Herzen werden.“
„Ja, ja, wir wollen hier fort, Herr Küllenberg,“ bat sie.
Als sie bald darauf zwischen den Kornfeldern hinschritten, gab sie sich um vieles unbefangener. Sie plauderte, wie das daheim jetzt so nett eingerichtet sei, und dass es der Oehm Welm nicht anders getan habe, als dass sie das beste Zimmer im Häuschen hätte, und welchen Spaß es ihr mache, jetzt ordentlich mithelfen zu können, und wie die Kinder nett und wohlerzogen wären, und dass es ihr nun Sorgen mache, dass das kleinste immer einen Schnupfen hätt' und dass ihm das Näschen so lief.
Und dann erlebte sie einen großen Schreck, als sie durch ein Stückchen Heidewald gingen und sich plötzlich ein glänzendes Etwas vor ihr auf dem Pfade weiter schlängelte.
„En Schlang, en Schlang!“ schrie sie entsetzt auf. Aber Gottfried lachte und sagte: „Et is nur 'ne harmlose Blindschleiche,“ und nahm das Tierchen in seine Hand.
„Dat es vergeft! Se bit, se bit!“ schrie Gusken auf. Doch er beruhigte sie wieder. „Dat harmlose, nützliche Tier is froh, wenn wir et nit beißen“. Seh' sie dir mal ordentlich an, wie zierlich sie ist und wie hübsch die goldenen Äugsker sind.“
Aus angemessener Entfernung betrachtete Gusken, den Kopf vorgestreckt, das züngelnde Tier. Und als er ihm die Freiheit wiedergegeben hatte, da war sie der Bewunderung voll, dass er ohne Angst so was anpacken 68 könnte, und dass er so genau wisse, wie es in der Natur bestellt wär'.
Wie sie aus dem Walde heraustraten, tat sich ihnen ein hübscher Blick in die Gegend auf. Kaum ein Viertelstündchen vor ihnen lag in einer sanften Talschlucht Gottfrieds Vaterhaus, behäbig und herrschaftlich in seinem weiten Baumhof, und die blanken Fenster blitzten einladend zu ihnen herüber.
„Dat sieht ein bißken wat anders aus als Königskotten,“ sagte Gusken. „Et freut mich recht, dat ihr so ein schön' Haus habt und dat et euch so gut geht in der Welt. Euch gönn' ich dat so recht von Herzen. Aber nun muss ich heimgeh'n. Ich geh' hier gleich rechts über die Felder. Ihr seid schneller zu Haus als ich.“
„Nee, so hatten wir nit gewettet, Gusken,“ sagte er.
„Deine Kotten kenn' ich nu schon in- und auswendig, aber du hast den Küllenbergshof noch nit ordentlich kennen gelernt. Jetzt gehst du schön mit mir da herunter und siehst dir unsere Sach' auch mal an.“
Sie sah zu ihm empor, als habe sie ihn nicht verstanden. „Wat meint ihr?“ sagte sie. „Ihr macht aber 'ne Spaß mit mir. Wie könnt ich mit euch in euer Haus gehn. Un von euern Mägden kenn ich kein'.“
„Warum sollt'st du nit mit mer gehen können, wenn ich dich dazu einlade?“ antwortete er. „Du bist doch nun mal die Kottenprinzessin. Mein Vater hat dich selber so getauft, als du neulich so stolz und strack mit dem Liefermängken dahergingst. Und nächstens wirst du mündig, und daraufhin könnten wir denn doch schon wat mit dir zu bereden haben, ob du uns den Kotten nit verpachten wolltst, damit wir ordentliche Arbeiter an die Schleifstein' setzen un nit so ein Lumpenvolk, wat da jetzt dem Hergott den Tag abstiehlt. Also komm nur ruhig mit. Meine Eltern fressen dich nit auf.“
69 Sie atmete schwer und wurde rot und bleich vor Erregung. Dann sah sie ihn wie hilfeflehend an und sagte fast kläglich: „Wat wollt ihr von mir, Herr Küllenberg? Ich merk et euch an, dat is nur so gesagt, dat wegen der Kottenpacht. Nee, nee, ich kann wahrhaftigen Gott nit mitgehn, nit um alles in der Welt. Lasst mich heim, lasst mich heim.“ Und plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und schluchzte heftig.
„Sieh, jetzt bist du wieder ganz klein und verzagt,“ flüsterte er, sie an sich ziehend. „Ich mein', Gusken, wenn wir doch so recht gut freund miteinander wären, und du hättst vielleicht auch ein bißken wat Besonderes für mich übrig, dann wärst du nit so kleinmütig, un dann tätst du nur denken, der Küllenbergs Gottfried, der wird schon wissen, wat he tut, un he meint et gut, arg gut mit mir, un da kann ich et schon emal riskieren, mit ihm zu gehen, wohin he mich haben will. Un dann tätst du dat Köppken in den Nacken werfen und frügst nit lang.“
„Ach, Herr Gottfried, ich, ich hab ja so 'ne arge Angst,“ wimmerte sie.
„Wenn ich bei dir bin, Gusken?“ sagte er leise. „Also komm, geh nur mit mir, Kind.“
Da hob sie den Kopf und atmete tief durch und stieß, wie in Verzweiflung, hervor: „Na, dann macht mit mir, wat ihr wollt, ihr habt et zu verantworten.“
„Un du sollst es nit bereuen, Gusken, wahrhaftig nit,“ versicherte er. So schritten sie dem Kaufmannshause im Tal entgegen. Gusken sagte nichts mehr. Es war, als ob sie in einem Traume wandle. Sie trug den Kopf hoch aufgerichtet, ihre Pupillen waren weit geöffnet und sie atmete schwer.
Dann waren sie beim Hause angelangt, standen unter dem kleinen, von wildem Wein ganz umrankten 70 Vorbau vor der Tür. „Jetzt kann ich et nit mehr,“ stöhnte das Mädchen, und es war, als wollte sie zusammensinken. Da fing sie Gottfried in seinen Armen auf, presste sie an seine Brust und küsste sie auf den Mund. Und er fühlte, wie sie unwillkürlich seinen Kuss erwiderte.
„Siehste, siehste, Gusken, jetzt sind wir zwei ganz im reinen. Sind wir dat?“ fragte er glücklich.
„Ja, ja, Gottfried, dat sind wir,“ hauchte sie.
„Dann brauchtst du vor dem andern nun auch keine Angst mehr zu haben. Also Mut, Mut, et hat alles nix auf sich.“ Aber er musste sie doch stützen, und es war ihr nicht anders, als ob sie hingerichtet werden sollte, als er sie in das Haus führte und die Treppe hinan in die Wohnstube. Da saß Frau Küllenberg am Fenster und und häkelte und Herr Küllenberg ruhte, die lange Pfeife in der Hand und das gestickte Seidenmützchen auf dem Kopf, im großen Armstuhl und las in der „Kölnischen Zeitung“.
„Na, Jung, wat bringste denn da?“ fragte er verwundert aufschauend, als Gottfried die Stube betrat, das Mädchen, das vor Verlegenheit nicht aus und ein wusste, sachte näher schiebend.
„Et is das Königs Gusken vom Königskotten,“ antwortete er. „Wir sind arg gut freund miteinander un da hab ich et aufgefordert, ein Köppken Kaffee mit uns trinken, damit ihr sie doch auch mal kennen lernt. Es hat mir Müh genug gekost't, sie her zu bringen.“
Herr Küllenberg stieß ein paar gewaltige Tabakswolken von sich, und Frau Küllenberg hatte sich erhoben, schlug die Hände ineinander und rief ganz fassungslos: „Jung, Jung, wat soll dat nur bedeuten?“
„Dat soll bedeuten, dat ich et mir arg hab durch den Kopp gehen lassen, dat ihr mich doch so gern 71 verheiratet sehen möchtet. Ich hätt' euch auch gern den Gefallen getan, irgend eine reiche Kaufmannstochter zu nehmen, aber et war ihrer kein' dabei, an der ich meinen Spaß hatt', un sie haben wohl auch keinen Spaß an mir, weil ich nu einmal all dat Gedöhns un die Dicktuerei nit mitmach. Un da hab ich nu zufällig dat Gusken kennen gelernt, un et hat mir immer besser un besser gefallen, un da hab ich mir gedacht, wenn sie dich mag, dann nimmste sie, und wenn sie sich nit mag, dann bleibste du ledig deiner Leben lang. Un so ist dat alles gekommen, un nu wollt ich euch fragen, wat ihr dazu denkt.“
Noch verhielten sich die beiden Alten schweigend, aber Gottfried hatte das Mädchen umfasst, das sein Gesicht an seiner Schulter barg und nicht aufzusehen wagte vor Bangen und Verlegenheit.
„Hm, hm,“ brummte schließlich der Alte. „Ehrlich gestanden, wir hatten uns dat wohl ein bißken anders gedacht, die Mutter un ich. Un wenn auch gegen dat Gusken gewiss nix zu sagen is … .“
„So ist et doch nur die Tochter von 'nem Arbeitsmann,“ ergänzte Gottfried. „Ja, dat stimmt, un dat hab ich mir auch überlegt. Aber wenn man nun von der Sach' einstweilen mal nix unter die Leut brächt', un wenn dat Gusken mir un euch zu lieb damit einverstanden wär, dat et vielleicht auf ein Jahr nach Düsseldorf oder Köln ging, vielleicht zu 'ner fein gebildeten Witwe, die sich wat Extras verdienen möcht, und da die bessere Küche und den Haushalt lernte un sonst noch dies oder dat dazu, un sich ein bißken bewegen lernte unter besseren Leuten, un sich nett anzuziehen, dann möcht ich doch wissen, wat dann an meinem Gusken noch auszusetzen wär.“
72 „Kiek, kiek, Jung, die Sach hast aber gut kalkuliert. Jetzt kommt die Rechnung schon besser heraus,“ meinte der Fabrikant.
Frau Küllenberg betrachtete unterdes verstohlen das Mädchen, das sich aus Gottfrieds Arm gelöst hatte und nun mit gesenkten Blicken, die Hände vor dem Schoß verschränkt, in der Stube stand, als erwarte sie ergeben einen Urteilsspruch.
Die Abendsonne hatte sich durch die gestärkten Fenstergardinen gestohlen und beleuchtete Guskens weiße Stirn und ließ das rote Haar wie von tausend Fünkchen auflohen. Da konnte sich die Mutter Gottfrieds nicht mehr enthalten zu sagen: „Et will mir so scheinen, als wenn de Jung keine schlechte Geschmack entwickelt hätt. Ob wir denn auch wohl dem Gusken gefallen?“
Da stürzte das Mädchen auf sie zu, sank vor ihr nieder, drücke die Hände der Greisin vor ihr Gesicht und schluchzte: „Ich will ja gewiß un wahrhaftig alles tun, wat man von mir verlangt. Ich habe den Gottfried ja so arg, arg lieb, aber ich hab nie daran gedacht, dat dat nu so kommen würd'.“
„Ich denk', dann soll et uns nit weiter der Quer sein, dat de Jung dat so gemacht hat, Kind,“ sagte die Frau milde, und der Herr Küllenberg meinte energisch: „Dann wollen wir auch keine langen Fisematenten mehr machen un emal gemütlich unseren ersten Kaffee miteinander trinken. Laß die Dröpelmina drum noch emal frisch füllen, Mutter.“