(21.–40. Tausend. Verlag des Volksbildungsvereins zu Wiesbaden, 1917)
Nachdem Gottfried dann ein halbes Stündchen weiter gewandert war, an einem Bächlein entlang, das zwischen Eichenmucken und Heister über Stock und Stein der Wupper entgegensprang, gelang er an einen halb verfallenen Schleifkotten, die jämmerliche Arbeitsstätte von einem halben Dutzend Schleifern. Bei früheren Mahngängen auf die Höfe hatte Gottfried diesen Kotten immer seitwärts liegen lassen; denn hier war keiner der Küllenbergschen Arbeiter beschäftigt. Kürzlich erst, als es sich um einen großen und besonders eiligen Auftrag handelte, hatte man auch einen der Leute, die in dieser entlegenen Mühle ihre Schleifstelle hatten, mit einer Lieferung betraut. Der Anblick des armseligen, windschiefen Kottens, der sich wie hilfesuchend an die Felsen schmiegte, indes das Wasser aus dem kleinen Sammelteiche rauschend über das mürbe, von langen Moosbärten besetzte Rad fiel, erweckte keine angenehmen Gefühle bei Gottfried. Das war so ein Kasten, in dem die Arbeit wegen Wassermangel das halbe Jahr ruhen musste, währenddes dann die Leute, die sich solche Arbeitsstätten gepachtet hatten, Zeit genug fanden, in der Gegend herumzulungern, Hasen zu ströppen oder Vögel zu fangen. Ordentliche Arbeiter 39 suchten bessere Arbeitsorte auf. Gottfried ahnte Übles, und er fand es bestätigt, als er den Arbeitern mit stierem Blick vor seinem Schleifstein sitzen sah. Eine halbgeleerte Schnapsflasche auf der Messerbank redete ihre Sprache. Der junge Kaufmann hielt mit seiner Meinung nicht zurück und entfernte sich zornig, entschlossen, einem Schleifer aus „Königs Kotten“ künftig keine Lieferung mehr zu übertragen.
„Ist eigentlich der Wehrhaus Jupp öfter besoffen?“ fragte er ein junges Mädchen, das auf den Steinen der Haustüre einer kleinen Hütte saß, die einsam wenige Schritte von der Schleifmühle stand und mit den kleinen Fenstern fast melancholisch in das Tälchen hinabsah. Einige Fuchsien- und Geranienstöcke gaben ihr doch ein freundlicheres Aussehen. Das junge Mädchen, das damit beschäftigt war, Schwertgriffe aus Fischhaut zu nähen und dabei eine Ziege beaufsichtigte, die in der Nähe herumweidete, blickte voll zu ihm auf, und er sah in ein paar klare, graue Augen in einem zartweißen Gesicht unter sich leicht wirrendem, goldrotem Haar. Gottfried wurde ordentlich verlegen unter diesem klaren, fragenden Blick, und so rückte er leicht an seiner Kappe und meinte: „Der Kotten gehört doch wohl zu diesem Häuschen?“
„Und das Häuschen zum Kotten,“ sagte sie. „Aber wenn die da drinnen für ihr Geld Schnaps trinken, dann kann das Häuschen nichts dabei tun. Das Trinken ist jedem sein Sach'.“
„Aber wenn die Kaufleut' den Trinkern keine Arbeit mehr geben, was dann? – Da drinnen ist einer, der heute schon liefern sollt', und er hat noch nicht einmal angefangen. Solche Kunden können doch auch ihre Schleifstellenpacht nicht ordentlich bezahlen. – Ihr seid ja wohl die Tochter aus dem Königskotten?“
40 „Ja,“ sagte sie, „die bin ich. Aber der Vater ist vor zwei Jahren gestorben, und nun leb' ich mit der Mutter, mit meiner Stiefmutter, hier zusammen. Der Kotten ist als was abgelegen, und da kriegt man nicht immer gute Leut' zur Pacht. Wenn wir die hätten, säh' die Sache auchwohl was besser aus. Als der Vater noch da war, brauchte man sich über das Aussehen von dem Kotten nit zu genieren.“
Er glaubte einen leisen, wehen Ton aus ihren Worten zu hören, und so stocherte er mit der Zwinge seines Eichenstocks zwischen dem Steingeröll des Pfädchens und entgegnete mit einiger Teilnahme: „Ja, dat soll wohl so sein. So 'ne Sache ist schwer zu halten für ein paar Frauen.“
Da warf sie den Kopf ein wenig in den Nacken, und es klang ordentlich herrisch, als sie sagte: „ich hielt et schon, wenn et mir allein wär', verlaßt Euch drauf, ich hielt' et, wie mir et der Vater hinterlassen hat, damit man was Eigenes hätt' auf der Welt. Aber ich kann nix machen, gar nix. Ich muss schon zufrieden sein, dass ich mein Kämmerchen hab' in meinem Eigen.“
„Das ist wenig, blutwenig,“ meinte er bedauernd.
„Oder auch, wie grad einer geartet ist, viel.“
Sie nickte, dann sagte sie: „Der Vater hat all sein Leben geschafft, damit er ein Eigen hätt'. Aber als er dann endlich hier ein paar Jahre saß, ist er gestorben, an der Schleiferkrankheit. Mir hat er alles vermacht, weil ich sein einzig Kin war.“
„Und seine Frau? Die ist doch noch am Leben.“
„Ja, die ist noch am Leben, aber sie hat selber Geld, mehr als wir hatten. Sie hat et sich zu Elberfeld im Dienst gespart. Und sie hat die erste Hypothek auf dem Kotten, sechshundert Taler, und grad jetzt ist sie in die Stadt, um sie durch den Advokaten meinem Vormund 41 aufzukündigen, denn ich bin noch nit ganz mündig.“ Sie hatte Tränen in den Augen, als sie das sagte. Dann war es, als schämte sie sich dessen, und so blickte sie starr geradeaus und bemerkte kühl: „Aber dat geht ja keinen wat an.“
„Nee, dat geht mich gewiss nix an. Aber da wir doch nu einmal davon angefangen haben, so darf ich vielleicht noch fragen, wat denn dat mit der Kündigung auf sich hat? Dat is mir doch so 'ne Geschichte.“
Das Mädchen lachte bitter auf. „Wat dat auf sich hat? Einfach dat, dat mein Vormund dat Geld für die gekündigte Hypothek so leicht nicht kriegen wird. Dann wird der Kotten subhastiert, und da gewiss keiner darauf bietet, so behält ihn die Mutter als ihr Eigentum, und dann kann sie mich herausschmeißen. Dat hat dat auf sich. So, nun wisst Ihr et.“
„Und könnt machen, dass ihr weiterkommt, denkt Sie wohl? Sie versteht sich wohl nicht gut mit der Stiefmutter, Fräulein König?“
„Auguste heiß ich,“ lehnte sie das „Fräulein“ ab. Dann fuhr sie fort: „Nee, wir können et nit miteinander, un sie wollt' mich schon immer los sein. Ich sollt' in eine Fabrik gehen oder in einen Dienst, schon damit ich ihr dann pünktlich die Zinsen geben könnt'. Aber ich lass mich aus dem Häuschen, dat mir der Vater vermacht hat, nit herausdrängen, un wenn sie sich auf den Kopf stellt. Un ich tu et nit, und ich tu et nit!“ Sie schlug mit der geballten Rechten zur Bekräftigung in die flache Linke, und er erstaunte heimlich, wie gut es ihr stand, als ihre Augen blitzten und sie das rote, aufgeknotete Haar mit heftiger, stolzer Kopfbewegung in den blütenweißen Nacken zurückwarf.
„Aber ein guter Dienst in der Stadt wär' doch am End' nicht zu verachten,“ gab er zu bedenken. „Hier 42 in der Einsamkeit wird et wohl schwer, den Unterhalt zusammenzubringen.“
„Ja, leicht wird et nit. Ich helf' mir als so durch mit Griffenähen oder Seidespulen. Wenn die Griffe hier abgeliefert sind, weiß ich nit, ob ich gleich wieder Arbeit find', und dann wird et wohl wieder wat geben mit der Mutter. Dann bin ich wieder ein faul Ding. Ha, als wenn ich mich nit viel besser dermit tät, doch in einen Dienst zu gehen oder in eine Fabrik.“
„Und warum versteift Sie sich denn so darauf, hier in dem einsamen Kotten zu sitzen wie so 'ne Eule, wo et doch in der Stadt weit lustiger ist?“
„Ich brauch die Lustigkeit nit,“ gab sie herb zurück, und dann fuhr sie weicher fort, mit einem verlorenen Blick: „Ich hab' meinen Vater so gern gehabt, und ich hab' gesehen, wie er sich all sein Leben quälte, und wie er et endlich gezwungen hat, hier den Kotten und das Häuschen zu kaufen, und wie er gelitten hat unter dem harten Wesen seiner zweiten Frau, und wie er dann krank und immer kränker geworden is. Un als et auf et End' ging, un die Mutter eines Tages nit bei der Hand war, da hat er mich an sich herangezogen und hat mir über das Haar gestreichelt mit seiner abgezehrten Hand un hat gesagt: “Fuss (Fuchs) – so hat er mich immer geheißen wegen meiner roten Haar – Fuss, sieh', ich hab' die Sach' hier zusammengebracht, dat du emal nit nur so aus dem Staub herauskämst, un dat man doch ein bißken vorstellt im Leben, wenn et auch nit viel is. Man hört dann doch schon zu den bessern Leut'. Daran denk immer, mein Füssken, wenn ich nit mehr da bin, und tu alles, dat man dich hier nit herausdrängt. Denk, der Kotten, dat wär' deine Burg. Versprich et mir, dat du die ordentlich verteidigst, dat ich ruhig sterben kann in dem Gedanken, dat alles in 43 der Richte bleibt, wie ich et hingestellt hab. So hat der Vater gesagt, un so hab ich et ihm in die Hand versprochen. – So, un nu wisst Ihr, weshalb das Königs Gusken hier sitzt und Griffe näht und Blotschen hat statt Schuh un so verwaschen, kattunen Kleid. Un nun geht Eurer Wege, un wenn Ihr heimlich über mich lacht, so is mir dat auch egal.“
Aber er blieb stehen und blickte so auf sie hin, wie sie da auf der Treppenstufe saß, und er bemerkte, wie ihr geflicktes Kleid den jugendlichen elastischen Körper in seinem ebenmäßigen Formen fast noch hervorhob, und dass die bestrumpften Füße in den grasgrün gestrichenen, sauberen Holzschuhen trotz alldem nett und zierlich aussahen. Und so sagte er: „Wat Sie mir da gesagt hat, Gusken, dat is aller Ehren wert. Et wär' nit nett von mir, wenn ich drüber lachte. Un seht, et tut mir ordentlich weh, wenn ich bedenk, dat man Euch doch hier eraus drängen könnt': Wie steht Ihr dann zum Vormund, und wat sagt de zu der Sach?“
„Mein Vormund is der Kirbachs Welm, 'ne Reider auf dem Buschmanns Höfken. He war dem Vatter sein bester Freund. Sie hatten zusammen gedient. Ich sag nur Oehm Welm zu ihm. He is ganz auf meiner Seite un tut alles, wat he kann. Aber von der Kündigung der Hypothek weiß he noch nix. Damit will ihn die Mutter auch überraschen. Sie kann ihn nit leiden, weil er so für mich is un gar nix auf ihre Fladusen gibt.“
„So, so, der Kirbachs Welm,“ machte Gottfried und nickte. „De Welm, den kenn ich. He is enen Arbeiter von uns, ich bin nämlich der jung Küllenberg.“
„Ah, vom Küllenbergshof,“ sagte sie unwillkürlich ein wenig respektvoll, doch dann fuhr sie ablehnend fort: „Ihr seid reich, un Ihr könnt Euch dat nit so 44 denken, wie man hier dran sein kann. Et war überhaupt dumm von mir, dat ich davon gesprochen hab'. Aber wenn man hier so sitzt, im Kotten da die gemein Mannslüt, denen man als emal die Zähn' weisen muss, und hier die Mutter, die mich am liebsten los wär', dann kann et als so über einen kommen, wenn man mit einem ordentlichen Menschen über die Sach red't.“
„Gewiss, gewiss, un et ist gut aufgehoben bei mir, Fräulein Gusken,“ versicherte er treuherzig und zwirbelte an seinem Schnurrbart. „Und mit der Kündigung von der Hypothek, dat nehmt Euch nit so zu Herzen, dat hat ja noch ein Vierteljahr Zeit. Un bis dahin kann am End schon die Welt untergegangen sein.“
„Ha, sie will et extra in dat Kündigungsschreiben hereinsetzen lassen, wenn sie dat Kapital schon vorher kriegen könnt', wär et ihr angenehm. Et is, als wenn sie einen noch verhöhnen wollt,“ sagte das Mädchen erregt, und die Augen blitzten stählern unter der weißen Stirn hervor.
„Dat kann sie sich ja leisten,“ lachte Gottfried. „Also sechshundert Taler is die Sach?“
„Ja, sechshundert Taler. Un et is gewiss dreimal soviel wert. Et hört ja auch noch ein Stück Busch dazu. Aber sie kriegt et dafür, sie kriegt et, wenn der Oehm Welm dat Kapital nit anderswo auftreibt. Un wer gibt heut noch wat auf so 'ne verfallene Kotten,“ kam es weh von ihren Lippen. Dann aber raffte sie sich auf und tippte wieder in ihre Hand und zischte: „Aber hier sollen sie mich nit wegkriegen, aus meines Vatters Eigen, und wenn ich in ein Fuchsloch da in unserem Busch hineinkriechen müsst.“
„Kommt Zeit, kommt Rat, Fräulein Gusken,“ tröstete Gottfried, fuhr sich mit dem Taschentuch über Hals und Gesicht und fand, dass es heute doch sehr 45 warm sei. Ob sie ihm nicht ein Glas Wasser geben könnte. Da huschte sie ins Haus, kehrte mit einem leeren Glase zurück und sagte, das Wasser im Eimer sei ganz lau geworden, er möge ihr nur die paar Schritte zum „Sprung“ (kleine gefasste Felsenquelle) folgen. Und nun schlurrte sie geschwind in den grünen Holzschuhen über ein schmales, von flachen Steinen belegtes Pfädchen im Gebüsch vor ihm her, und es machte ihm Spaß, dass sie fix wie eine Eidechse trotz der Blotschen daher huschte, und wie nett sich ihre ebenmäßige Gestalt von dem Dämmer zwischen den Gebüschen abhob. Dann waren sie an dem kleinen, klaren Tümpelchen angelangt, das von moosigen Steinen umfasst und von Farnwedeln umkränzt war, indes der aufsteigende Wald sich in dem Brünnchen spiegelte. Und wie sie sich nun so über das Wasser neigte und den weißen Arm ausstreckte, den Trunk zu schöpfen, und wie ihr rotes Haar von einem Sonnenstreif getroffen wurde, dass es funkelnd aufleuchtete vor den breiten, grünen Farnwedeln, da war es ihm fast wie in einem Märchen, und er glaubte, eine Nixe oder eine verzauberte Prinzessin zu sehen.
Sie reichte ihm das gefüllte Glas. Es war ganz beschlagen von der Kühle.
„Es is en gut Wasser,“ sagte sie mit Stolz. „Früher waren immer ein paar Forellen im Sprung. Der Vatter hat sie selber hereingesetzt, damit sie das Wasser klar hielten. Aber die Donnerkiels, die Schleifer, haben sie gefangen. Ha, wenn man die nur nit mehr nötig hätt', 'nen Lattenzaun, zwei Manns hoch, ließ ich um den Busch und den Kotten machen.“
„Richtig, wie um die Burg zu verteidigen,“ lachte er und reichte ihr das Glas zurück. „Ja, et ist hübsch kalt“, lobte er. „Et hat einem ordentlich in den Schläfen 46 weh getan beim Trinken. Seid vielmals bedankt für den Trunk.“
„Kein Ursach, Herr Küllenberg.“
Er wandte sich zum Gehen. Dann tippte er sich gegen die Stirn, als wenn ihm plötzlich etwas einfiele, schnalzte dann mit dem Daumen und Mittelfinger und sagte: „Ihr habt mir da gesagt, et wär Euch oft nit leicht, Arbeit zu finden. Nu haben wir da 'ne große Lieferung von Säbeln für die kolumbische Kavallerie, bei der ein neues Modell eingeführt wird. Da gibt et eben so viel Griffe bei uns zu nähen, dat wir gar nit Händ genug dafür finden können. Wenn et Euch passt, könnt' ich Euch morgen hundert oder mehr zurechtlegen lassen. Ihr braucht sie nur zu holen. Und wenn sie fertig sind, gibt et ihrer noch mehr.“
„Da bin ich aber froh drum !“ rief sie voller Freude und strahlte ordentlich auf.
„Ja, ja, so kann eins dem anderen 'nen Gefallen tun, und so war et doch ganz gut, dat mich der Weg zufällig an Königs Kotten vorbeiführte, den ich meiner Lebtag noch nicht gesehen hab,“ lachte er. Dann gab er ihr die Hand, zog höflich die Kappe und schritt weiter auf dem steinigen Weg, um bald einen Seitenpfad hinauf die Höhe zu gewinnen. Da setzte er sich auf einen Eichenmuken und blickte in die Talschlucht hinab. Kaum hob sich vor dem Laubwerk des Gestrüpps das Dach des Kottens ab und die schwarzglänzenden Pfannen des Häuschens. Nur das Schleifgeräusch, das gedämpft heraufdrang, erzählte davon, dass eine Welt der Gegenwart, eine Welt der Wirklichkeit auch da unten pulse und kein Märchenreich.