Sonntag, 27. September 1998
10.30 Uhr: Erster Blick aus dem Fenster. Fazit: die Decke ein weiteres
Mal über den Kopf ziehen.
11.45 Uhr: Blauer Himmel mit dicken Cumulus-Wolken. Schnell
das Bett
verlassen, getrieben von dem ersten Gedanken: "Wann
schließt die
Bäckerei?" -- Ein frisch gebackenes Baguette, Croissants und eine
riesige Tasse Kaffee mit Milch, so beginnt ein
französischer Morgen (oder sollte ich besser Mittag sagen).
Mit zwei kleinen Flaschen Bier das Rennen am Nürburgring im Hause
des englischen Nachbarn betrachtet. Meine Versuche, die Flaschen mit einem
normalen Flaschenöffner zu öffnen und die Reaktion darauf -
es handelt sich um Drehverschlüsse - verschweige ich besser.
Während in Deutschland die letzten Personen zur Urne schreiten,
besuchen wir den Strand von "St. Jacut de la Mar" und beobachten
die eintretende Ebbe. Es fängt wieder leicht an zu regnen,
aber im Gegensatz zu Wuppertal
läßt sich die Näße
ertragen. Die Muschelsuche am verwaisten Strand geht weiter.
Gegen 19.00 Uhr wieder im Hause; während der Vorspeise
ruft Minzi aus
Paris an und berichtet von den ersten Hochrechnungen der deutschen
Bundestagswahl. Die Ära Kohl scheint ein Ende zu haben.
Was bringt die
Zukunft? Ich zünde den Kamin an. Unsinn - nicht den
Kamin; das sorgsam
aufgeschichtete Konglomerat aus Tageszeitung (interessant, was
die Leute so lesen und anschliessend sich in Rauch auflöst),
Reisig und kleingehackten Resten der umliegenden Treppenfabrik.
Meine mitgebrachte Reiselektüre und die ebenfalls lesende
Reisebegleiterin stossen mich auf eine mir bisher nicht
bekannte Seite
der Bretagne, Brocéliande. Ein sonst nur den
erklärbaren Dingen
hingewandter Reiseberichterstatter versinkt in den
Vorstellungen, die
durch das Knistern des lodernden Feuers verstärkt werden.
Der Zauberwald von Brocéliande
"Jedermann kann den Wald von Paimpont durchqueren,
wieviel kommen von
Ihnen Brocéliande nahe? Brocéliande existiert
nicht auf den amtlichen
Landkarten: es ist ein Wald, den man in sich selbst trägt
und dem man
immer erhofft zu begegnen." Ein Wald des Traumes und der Verzauberung.
Brocéliande ist vermutlich die alte gallische
Bezeichnung für das
Jenseits "Brec'h heliant".
Das größte Waldgebiet der Bretagne, ca. 40 km
westlich von Rennes.
Ursprünglich ein urwüchsiges, gut 140 km langes
Waldgebiet. Inzwischen
durch Abholzung auf 7000 ha geschrumpft. Der schöne
dichte Mischwald,
z.T. wieder aufgeforstet, ist von Seen und Teichen durchzogen.
Der Wald
ist erst richtig interessant durch seine keltischen Sagen. Von der
Gralslegende und der Tafelrunde König Artus, seinem
Ratgeber, Zauberer
Merlin, den Feen Morgane und Viviane.
Lageplan
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Brocéliande steht auf einem Felssockel, 600 Millionen Jahre alt: roter
Schiefer, Granit und Quarz. Ein nüchtener Sockel, der
viele Stellen der Waldbedeckung durchlöchert; das Rückrat des
Drachens, eindedöst auf den Höhen des Tals ohne Wiederkehrs,
riesige Krallen, dem Dorf von Beauvais entgegengestreckt.
In Brocéliande band Viviane den Zauberer Merlin mit
unsichtbaren Seilen.
Im Tal ohne Wiederkehr hielt Morgane ihre untreuen Liebhaber gefangen,
bis sie von Lancelot, dem treuesten aller Ehebrecher, endlich befreit
wurden. Heute ragt dort ein vergoldeter Baumstumpf auf,
Erinnerungen an einen Waldbrand, den achtlose Camper im September 1990 entfacht haben.
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Tief unten der Miroir-aux-Fées, der Spiegel der
Feen, ein grünäugiges Gewässer.
Das Ende (oder vielleicht der Anfang) des Val sans
retour. Hier, im Tal ohne Wiederkehr hielt Morgane
jene Ritter gefangen, die weder ihr noch den eigenen Ehefrauen
treu waren. Eine ziemlich große Schar, die da zusammenkam.
Aber sie hatten es nicht schlecht. Essen, trinken,
lanzenstechen, was eben ein Ritter so braucht. Nur die
umgebenden Felsen hinderten sie an der Flucht.
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Bis der Herr Lancelot kam und der bösen Fee zum Trotze all die
unsittlichen Ritter befreite, durch Kämpfe mit Drachen usw., was
halt eben alles zu einer ordentlichen Rettung durch Ritter gehört.
Lancelot war der treueste Ritter. Doch auch er war unsittlich: er war
ehebrecherisch treu. Beständig trieb er es mit keiner anderen als immer
nur mit der Gattin seines Königs Artus.
Fortsetzung folgt! Merlins Grab