Die Thalbrücke bei Müngsten
Foto: Detail der Müngstener Brücke
Detail der Müngstener Brücke im Jahr 2004. (Foto: M.Tettinger)

Aus vergilbten Schriften, wir schreiben das Jahr 1922:

Die Müngstener Brücke

Seit Jahrhunderten herrscht zwischen Solingen und Remscheid ein überaus reger Handelsverkehr. Innig ineinander verwachsen waren die Solinger und Remscheider Industrie. Während bei uns die feineren Stahl- und Schneidewaren hergestellt werden, fertigt Remscheid die gröberen, wie Werkzeuge, Küchengeräte und dergl. Kein Wunder ist es deshalb, daß man die beiden Schwesterstädte, wie sie vielfach genannt werden, schon frühzeitig durch gute Verkehrswege verband. Die Chaussee Solingen-Remscheid, die ihre Vorgänger in alten Fahrwegen hatte, wurde in den Jahren 1845/1848 erbaut. Mit Freude wurde damals diese Verkehrsverbesserung begrüßt. Je mehr aber das Dampfroß die Straßen des Verkehrs beraubte, desto mehr vermißte man diese neuzeitliche Verbindung zwischen Solingen und Remscheid. Obschon beide aneinander grenzen und ihre Mittelpunkte in der Luftlinie nur 8 Kilometer voneinander entfernt liegen, mußte man mit der Eisenbahn den Umweg über Elberfeld in einer Gesamtlänge von 44 km machen. Unter diesen Umständen blieb die Straße zwischen den beiden Städten noch lange Zeit die Hauptverbindung. Bergab, bergauf wurden die Lasten gefahren, und denselben Weg nahm die jetzt historisch gewordene Postkutsche.

Jahrzehnte lang versuchte man alles, um eine direkte Bahnverbindung zu erhalten. Alle Behörden erkannten auch die Notwendigkeit einer solchen Bahnverbindung an. Aber ihrer Ausführung stellten sich Schwierigkeiten wegen der überaus ungünstigen Bodenverhältnisse und wegen der gewaltigen Kosten entgegen, welche die Ueberbrückung der Müngstener Täler erforderte. Remscheid und Solingen, beide auf einem Höhenrücken liegend, sind durch das tief und scharf eingeschnitte und dabei breite Tal der Wupper von einander getrennt; dabei liegt der Bahnhof Remscheid etwa 100 Meter höher als der Bahnhof Solingen-Süd [der heutige Solinger 'Hauptbahnhof'], und dieser wieder etwa 100 Meter über dem Wasserspiegel der Wupper.

Es ist aber bergische Art, das, was man einmal als gut, nützlich und notwendig erkannt hat, mit Beharrlichkeit zu verfolgen und zu verwirklichen, und so erlahmten auch die Solinger und die Remscheider Bürger in ihren Bemühungen nicht. Zuerst wurde durch den damaligen Kreisbaurat Bormann in Elberfeld ein Plan ausgearbeitet, den man dem Minister vorlegte, indem die Städte sich zugleich zur Uebernahme des Grunderwerbs bereit erklärten. Vom Ministerium wurden weitere umfangreiche Erhebungen angestellt; es fanden wiederholt eingehende Ortsbesichtigungen statt, und schließlich wurde die Eisenbahndirektion Elberfeld vom Ministerium mit der Ausarbeitung eines Planes beauftragt, wobei der Bormannsche Entwurf verschiedene Aenderungen erleiden mußte. Das war Ende der achtziger Jahre. Der Landtag erhielt eine diesbezügliche Vorlage und bewilligte denn auch die vom Ministerium geforderte Summe von 4 978 000 Mark. Diese Mittel dienten gleichzeitig mit zum Ausbau der Linie Ohligs-Hilden.

In der Richtung von Solingen nach Remscheid gelangt man, die Linie der Bahn verfolgend, in der Nähe von Halfeshof, oberhalb des bekannten Restaurants zum Felsenkeller, an das etwa 140 Meter breite und ziemlich tiefe Tal zu Windfeln, das, zu breit und zu tief, um durch einen Damm wegsam gemacht werden zu können, mit einer Brücke versehen werden mußte. Das zierliche Bauwerk, das heute dem Dampfroß als Weg dient, wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1893 von der Firma Gutehoffnungshütte in Oberhausen ausgeführt. Die Brücke ruht auf je einem Endwiderlager und zwei schlanken Mauerpfeilern, die in einer Entfernung von 50 Metern voneinander errichtet wurden. So besitzt die Brücke drei Oeffnungen, nämlich eine Mittelöffnung von 50 Metern, und 2 Seitenöffnungen von je 45 Metern. Für den eisernen Ueberbau wurden im ganzen 450 000 Kilogramm Eisen gebraucht. Nachdem das Mauerwerk am 10. Juni 1893 vollendet war, konnte der eiserne Ueberbau in Angriff genommen werden, der auf festen Holzrüstungen geschah und etwa 5 Monate in Anspruch nahm. Der erste Güterzug fuhr über diese Brücke am 14. Dezember 1893. Das Bauwerk kostete rund 300 000 Mark (eine außerordentlich hohe Summe zu damaliger Zeit) und wurde von der genannten Firma zur vollsten Zufriedenheit der Eisenbahnverwaltung ausgeführt. Die Brücke ist entzückend gelegen und gewährt dem Wanderer, dem ein glücklicher Zufall ein Verweilen gestattet, einen herrlichen Blick in's Tal. Es ist ein herrliches Panorama, das sich hier dem Auge öffnet.

Waren die Schwierigkeiten, die, aus den Unebenheiten des Geländes erwachsend, sich der Ausführung der Eisenbahnlinie hindernd in den Weg stellten, bis hierhin gewiß nicht klein zu nennen, so wurden sie doch verschwindend winzig angesichts des 500 Meter breiten und bei 107 Meter gähnend tiefen Wuppertals, das, um eine Schienenverbindung der beiden fleißigen Schwesterstädte möglich zu machen, überbrückt werden mußte. Aber die Ingenieurwissenschaft, für welche diese ganze Eisenbahnlinie mit ihren gewaltigen Dämmen, tiefen Gelände-Einschnitten, kleineren und größeren Brücken und Tunnels ein glänzendes Zeugnis ist, schreckte auch vor dieser Titanenarbeit nicht zurück, sie schuf das Bauwerk, welches das technische Meisterwerk des vorigen Jahrhunderts genannt zu werden verdient. Und dieses gewaltige Werk ist wert, daß wir uns eingehender mit ihm beschäftigen.

Der Plan von Baurat Bormann sah die Ueberbrückung des Wuppertales in einer Höhe von 120 Metern über dem Wupperspiegel vor, und zwar in unmittelbarer Nähe des Vergnügungsortes Müngsten; die Eisenbahndirektion jedoch ermittelte eine ihr günstiger scheinende Stelle zum Talübergang etwa 800 Meter unterhalb Müngstens mit einer Planiehöhe von 107 Meter über der Wupper, mit einer Länge des Brückenbauwerkes von 480 Metern und bei rund 660 Metern Entfernung der beiden Punkte, in welchen die Planie beiderseits in die Talwände einschneidet.

Das Eisenbahnministerium hatte ursprünglich eine Gerüstbrücke angeordnet, während die Eisenbahndirektion Elberfeld mit Rücksicht auf die landschaftliche Schönheit des vielbesuchten Wuppertales eine Auslegerbrücke vorzuziehen gedachte. Schließlich wurde vom Ministerium die Ausarbeitung von drei Entwürfen angeordnet: Gerüst-, Ausleger- und Bogenbrücke, und hierzu wurden Ende 1891 die Firmen "Aktiengesellschaft für Eisenindustrie und Brückenbau vorm. J. C. Harkort in Duisburg", "Gutehoffnungshütte in Oberhausen" (welche die Windfelner Talbrücke ausführte), und "Maschinenbau-Aktiengesellschaft Nürnberg in Nürnberg" eingeladen. In den der Einladung folgenden persönlichen Verhandlungen der einzelnen Werke mit Regierungsbaumeister Carstanjen, der von der Eisenbahndirektion hierzu bestimmt worden war, wählte die Gutehoffnunsghütte die Gerüstbrücke, die Gesellschaft Harkort die Auslegerbrücke und das Nürnberger Werk die Bogenbrücke. Im Juli 1892 konnten die Angebote angegeben werden und lauteten bei Gutehoffnungshütte auf 2 570 000 M., bei Harkort auf 2 700 000 M., und bei Nürnberg auf 2 150 000 M. (einschließlich der Erd- und Maurerarbeiten). Die Maschinenbau-Aktiengesellschaft Nürnberg ging aus diesem interessanten Wettbewerb als Siegerin hervor; die Akkordsumme wurde nach verschiedenen Abänderungen auf 2 224 000 M. festgesetzt.

Alle drei Entwürfe wurden als ehrendes Zeugnis deutschen Gewerbefleißes von der Eisenbahndirektion Elberfeld [1893] auf der Weltausstellung in Chicago zur Schau gestellt.

Der eiserne Ueberbau der Brücke setzt sich zusammen aus einer Mittelöffnung von 170 Meter mittlerer (160 innerer und 180 äußerer) Stützweite, welche die Talsohle überspannt, und daran beiderseits anschließenden Gerüstbrücken, bestehend auf der Remscheider Seite aus zwei Oeffnungen zu je 45 und einer zu 30 Metern mit je 2 zugehörigen Gerüstpfeilern von je 14 Metern Längsbreite [müsste 15 Meter heißen; mte], auf der Solinger aus einer Oeffnung von 45 und 2 zu je 30 Metern. Ueber den Bogenwiderlagern sind ebenfalls Pfeiler, außerdem über dem Bogen in 30 und 15 Metern Entfernung Pendelstützen angeordnet, über denen sich die Gerüstbrücke in gleicher Anordnung wie an den Talwänden über die ganze Bogenlänge fortsetzt. Die Gesamtlänge der Eisenkonstruktion ist genau 465 Meter.

Neben dem Eisenwerk der Brücke nimmt aber auch der Mauerkörper einen breiten Raum ein; waren doch nicht weniger als 10 872 cbm Mauerwerk und 20 833 cbm Grab- und Sprengarbeiten zu bewältigen. Von der ursprünglichen Absicht, den Tonschiefer, wie er sich im Wuppertal findet, für Füllmauerwerk zu verwenden, wurde Abstand genommen; für die sämtlichen Mauerkörper ist Ruhrkohlensandstein mit Wasserkalkmörtel (1:2) mit geringem Zementzusatz genommen worden. Für Gesimse und Abdeckplatten wurden Eifelsandstein, und für die Auflager Granit aus Blauberg im Fichtelgebirge verwendet. Die Zufuhr des Baumaterials usw. zur Baustelle geschah von der Solinger Seite, wo auch der 7500 qm große Werkplatz hergerichtet wurde, für welchen 10 000 cbm Erd- und Felsbewegung notwendig waren. Ferner mußte eine Transportbahn von einer Seite des Tales zu anderen, eine Hilfsbrücke von 31 Meter Höhe, eine ausreichende Wasserversorgung mit Hochreservoir (115 Meter über der Wupper) geschaffen und endlich, da diese einzelnen Baumaschinen, das Pumpwerk im Tale und die Transportbahn elektrisch angetrieben und die Plätze elektrisch beleuchtet werden sollten, eine elektrische Licht- und Kraftzentrale angelegt werden. Es ist interessant, einige Einzelheiten aus dem Bauvorgang der Widerlager- und Pfeilerfundamente kennen zu lernen. Am 26. Februar 1894 wurde mit den Erdarbeiten für die Pfeiler und Widerlager begonnen. Die gesamten Grab- und Sprengarbeiten für die 8 Objekte betrugen rund 21 000 cbm, wovon allein auf die beiden mächtigen Bogenwiderlager, bei denen der Fels zu Tage lag, also alles gesprengt werden mußte, 11 500 cbm entfallen. Verbraucht wurden bei den Sprengarbeiten rund 1500 kg Pulver und 1400 kg Dynamit. Zu den Maurerarbeiten, die 10 872 cbm umfassen, waren 18 500 Rollwagenladungen Steine und 3300 cbm trockener Mörtel mit der Transportbahn zu bewegen. Zieht man dann noch den Transport der vielen Gerätschaften in Betracht, so ersieht man, welche gewaltigen Leistungen dieser Bahn bei den gewaltigen Höhenunterschieden für die Ausführung der Maurerarbeiten zugemutet wurden. Am 23. Juni 1895 waren die Grab- und Maurerarbeiten beendet.

Die Montage-Arbeiten begannen im Frühjahr 1895 zuerst an den Gerüstpfeilern sowohl auf Solinger als auch auf Remscheider Seite, und nachdem diese beendet, konnte im Juli 1896 zu dem gewaltigen und kühnen Werke der Montage des riesigen Bogens geschritten werden. Von Nah und Fern eilten während dieser Zeit Schaulustige herbei, um Zeuge der Arbeiten zu sein, die bis dahin einzig in ihrer Art dastanden.

Die Hauptarbeit der Bogenmontage fiel in die Wintermonate. Das Bauwerk war mit den in belastetem Zustande je rund 42 Tonnen wiegenden Drehkranen an den Spitzen der Vorkragungen den heftigsten Windangriffen ausgesetzt. Während der Bogenschlußarbeiten in der dritten Märzwoche des Jahres tobten fast Tag für Tag heftige Stürme, begleitet von starken Gewittern. Ingenieure und Werkleute harrten dabei stets, selbst an den exponiertesten Punkten, bei der Arbeit aus, und wohl keinem der Beteiligten ist auch nur der leiseste Zweifel über genügende Sicherheit des Bauwerkes gekommen.

Das gesamte Gewicht des eisernen Ueberbaues beziffert sich auf nicht weniger als 4934 Tonnen. Die Kosten der Brücke belaufen sich auf insgesamt 2 570 000 Mark.

Während auf der Brückenbaustelle fleißig geschafft wurde, häufig auch unter Zuhilfenahme der Nächte, wobei dann das elektrische Licht die Höhen der Berge und das Tal mit seinem bläulichen Schimmer märchenhaft schön überflutete, war man auf der Remscheider Seite auch nicht müßig. Auch hier war manche schwierige Arbeit zu bewältigen. Alles aber gelang in vortrefflicher Weise dank dem unerschüttlich guten Einvernehmen zwischen Eisenbahndirektion und den ausführenden Unternehmern und deren Arbeitern.

Foto zeigt die unvollendete Eisenbahnbrücke am 15. Februar 1897
Angeblich zeigt dieses Foto die bergische Riesenbrücke am 15. Februar 1897. Links die Solinger Seite, rechts geht es nach Remscheid. (Quelle: Die Müngstener Riesenbrücke und das bergische Land. Druck+Verlag Dietz, Düsseldorf, 1897)

Endlich in den Sommermonaten des Jahre 1897, wurde das Bauwerk, das in kühnem Bogen das Wuppertal überspringt, fertig. Mit Stolz konnten Unternehmer und Arbeiter auf ihr Werk schauen. Jeder Besucher des Tales hat auch heute noch seine Bewunderung für das Werk, das deutscher Geist geschaffen. Seit dem 15. Juli 1897 ist die Brücke in Benutzung. In den 25 Jahren rollten täglich viele schwere Eisenbahnzüge über sie hinweg. Aber allen Lasten hat sie getrotzt.

Von Zeit zu Zeit findet auf Veranlassung der Eisenbahnbehörde eine Probebelastung der Brücke statt. Die steht dann voll beladener Wagen und Lokomotiven. Nicht die geringste Schwankung war bei solchen Belastungen festzustellen. Unerschüttert und unverändert steht die Brücke da als Zeichen deutscher Tatkraft, auf dem sich in unserer Zeit ebenso wie vor 25 Jahren jeder Reisende so sicher fühlen darf wie auf der Eisenbahnstrecke inmitten des Landes auf sicherer Erde.

(Quelle: Schmidt, Max: Geschichtliche Wanderungen durch Solingen Stadt und Land, Schwert-Verlag, Solingen 1922, S. 129ff)

Max Schmidt hängte seinem Werk eine Liste der benutzten Quellen und Veröffentlichungen an. Leider ist daraus nicht ersichtlich, welche er für den Beitrag über die Müngstener Brücke nutzte. Vermutlich war es ein schriftlich festgehaltener Vortrag von Anton Rieppel, den dieser unter dem Titel 'Die Thalbrücke bei Müngsten' am 14. Juni 1897 in Kassel hielt. Nachzulesen ist dieser technisch anspruchsvolle Artikel in der Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure, No.47, 20. November 1897, S.1321ff.

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©2004 Michael Tettinger - Do. 29.07.2004 - Mo. 02.08.2004