Aus alten Zeitungen
Solinger Kreis-Intelligenzblatt am 15. August 1906

Aus Stadt und Umgegend

Ein Unwetter,

wie es ähnlich vor mehreren Jahren im Süden der Stadt Köln niederging und große Verwüstungen anrichtete, suchte gestern Nachmittag unsere Solinger Gegend, und zwar diese nach allen bis zur Stunde vorliegenden Nachrichten ganz besonders, heim.

Nachdem den ganzen Tag über eine drückende, fast stechende Hitze geherrscht hatte, die Menschen und Tiere niederdrückte, zog etwa gegen 1/2 4Uhr aus der Rheinebene ein Gewitter herauf, um bald in unheimlicher Weise über unsere Berge dahinzubrausen.

Dunkle, unheilschwangere Wolken schoben sich neben und übereinander. Bald darauf durchzuckten, es war ungefähr 4 Uhr, grelle Blitze die Luft, jedoch von nur wenigen, nicht allzustarken Donnerschlägen begleitet. Dann aber erhob sich die Windsbraut. Ein Wirbelwind setzte mit elementarer Macht ein, der alles zerstörte, wohin er auch immer fegte. Die Windhose - denn eine solche war es wohl - kam aus südsüdwestlicher Richtung und suchte im besonderen die Ortschaften 2. und 3. Balkhausen, Scharfhausen, Schaberg, Dorperhof und Müngsten heim.

Der Schaden, der angerichtet wurde, ist bis jetzt noch nicht berechenbar. Leider ist auch ein Menschenleben dabei zu Grunde gegangen, während eine ganze Anzahl Personen verletzt ist. Die einzelnen Zerstörungen wollen wir im folgenden schildern, so wie sie von uns an Ort und Stelle festgestellt worden sind.

Postkarte: Zerstörtes Haus mit Scheune in Balkhausen an der Wupper
Zerstörtes Haus mit Scheune in Balkhausen an der Wupper

In 2. und 3. Balkhausen sind insgesamt 15 Häuser total abgedeckt worden. Eine neuerbaute Scheune ist völlig eingestürzt. Unter ihre Trümmer geriet der 11jährige August Voß und erlitt ziemlich schwere Verletzungen. Ein Haus stürzte zum Teil ein. Zwischen das Balkenwerk des Speichers wurde die etwa 14jährige Emilie Berger eingeklemmt und konnte nur dadurch, daß die ganze Balkenlage mit Äxten entzwei geschlagen wurde, aus ihrer gefährlichen Lage befreit werden. Sie erlitt einige unbedeutende Kopfverletzungen. Durch herabstürzendes Gestein und Holzteile erlitten ferner zwei Kinder der Familie Grah Kopfverletzungen, jedoch scheint hier keine weitere Gefahr zu bestehen.

Zu Scharfhausen sind alle Häuser mehr oder minder beschädigt. Auch hier ist ein Haus und eine Scheune eingestürzt. Unter die Trümmer des einstürzenden Hauses geriet der Reider Brückmann. Er erlitt eine ziemlich bedeutende, etwa 10 cm lange Stirnwunde und eine Fußverrenkung. Diese Verletzungen sind jedoch nicht lebensgefährlich. Des weiteren wurde ein Haus ungefähr einen Meter verschoben, blieb zwar unbeschädigt stehen, droht aber jeden Augenblick einzustürzen und mußte von seinen Bewohnern geräumt werden. Die Obstgärten in Balkhausen und Scharfhausen sind sämtlich zerstört. Die stärksten Obstbäume wie auch Waldbäume in großer Zahl liegen überall entwurzelt in den Gärten.

Der Weg von Krahenhöhe auf Glüder ist durch gestürzte Bäume gesperrt. Nur unter Anwendung der schwierigsten Kletterkunststücke über die Baumriesen ist es möglich, den Weg nach der Bertramsmühle zu passieren. Die Häuser in dieser Hofstatt sind ebenfalls fast alle beschädigt, einige Dächer abgedeckt. Recht launisch behandelte der Sturm in der Nähe von Bertramsmühle einen Baumriesen, eine Buche von fast einem Meter im Durchmesser. Der Baum wurde mit einer großen Menge Erdreich aus der Erde herausgedreht, dann senkrecht in die Höhe gehoben und 100 m von seinem früheren Standort wieder niedergesetzt. Hier blieb er bis gestern abend, bis ihn das zweite Gewitter zu Fall brachte, stehen, sodaß es aussah, als habe man ihn nur ausgerissen, um ihn an einer anderen Stelle wieder zu pflanzen. Die Windhose hat dann das Tal verlassen, um an der anderen Seite der Chaussee Solingen·Burg in verstärktem Maße das Werk der Zerstörung fortzusetzen.

Foto: umgestürzter Baum an der Burger Landstraße
Umgestürzter Baum an der Burger Landstraße

Der Schaberger Bahnhof ist, wie wir schon gestern nach Möglichkeit durch Extrablatt meldeten, total zerstört. Nur ein Zimmer ist stehen geblieben, in dem sich die Stationsräume befanden. Holzteile des früheren Stationsgebäudes, Bretter und Balken sind bis fast Felsenkeller geflogen. An dem Blasberg'schen Hause ist eine Giebelwand zum Teil eingestürzt und das Dach beschädigt worden. Als das Bahnhofsgebäude einstürzte, lief gerade der Zug 4,12 Uhr von Remscheid in Schaberg ein. Verschiedene aussteigende Reisende wurden durch die umherfliegenden Holzteile ziemlich schwer verletzt. Vom Südbahnhof wurde sofort ein Hilfszug erbeten, der auch kurze Zeit nachher mit einer Anzahl Arbeiter ankam, die sofort mit den Aufräumungsarbeiten begannen.

Schaberger Bahnhof als Zeichnung auf einer Postakrte aus dem Jahr 1898
Ausschnitt aus einer zeitgenössischen Postkarte, datiert nach Poststempel 1898. Bahnhof Schaberg vor dem Sturm.

Die Verletzten konnten, trotzdem das Wetter manchem arg mitgespielt hatte, mit demselben Zug sofort weiterfahren. Im ganzen sollen von den Passagieren 7 erwachsene Personen und auch verschiedene Kinder verletzt sein. Die genaue Zahl läßt sich noch nicht feststellen.

Zeitgenössiges Foto zeigt die Reste der Tannenallee in Müngsten
Für die Kamera posen nach dem Tornado 1906 bei Müngsten - im Hintergrund die Eisenbahnbrücke.
(Foto: ST-Archiv [mit bestem Dank])

In Müngsten wurden ebenfalls sämtliche Häuser beschädigt. Im Baumgärtner'schen Garten sind alle Bäume entwurzelt. Mit Bedauern wird mancher Naturfreund erfahren, daß die 100jährige Tannenallee in Müngsten total zerstört ist. Die Baumriesen liegen in wildem Chaos durcheinander. Die Passage ist dadurch vollständig gehemmt. Die ganze Nacht hindurch war man allenthalben mit den notwendigsten Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Ein Herr und eine Dame, welche bei Ausbruch des Gewitters vor der Wupperbrücke in Müngsten standen, wurden in die Wupper geweht, konnten aber mit Hilfe anderer Passanten wieder ans Ufer gezogen werden.

Postkarte: Blick auf Dorperhof nach dem Sturm am 14.8.1906
Postkarte: Blick auf Dorperhof nach dem Sturm am 14.8.1906
Links im Hintergrund ist die Müngstener Brücke schemenhaft erkennbar.

Zu Dorperhof sind 21 Gebäude abgedeckt und 10 Häuser eingestürzt. Unter den Trümmern eines der eingestürzten Häuser wurde der 13jährige Schüler Karl Grah mit gebrochenem Rückgrat und einigen Kopfverletzungen tot hervorgezogen. Ein 10jähriger Bruder des Toten erlitt eine Verrenkung des Beins, anscheinend auch innere Verletzungen.

Postkarte: Sturm-Katastrophe am 14. August 1906 - Zerstörtes Fachwerkhaus in Dorperhof/Solingen
(Zerstörtes Haus, Dorperhof bei Solingen)
Postkarte, ungelaufen, Kunstverlags-Anstalt W. Fülle, Barmen
Im Hintergrund sieht man Teile der Müngstener Brücke (damals Kaiser-Wilhelm-Brücke).

Ins Krankenhaus gebracht wurde der Erlmacher Wachholder, der von einer einstürzenden Schmiede verschüttet wurde und Verletzungen am Kopfe, an den Beinen und am Oberkörper erlitt. Diese Verletzungen sind indessen, wie uns mitgeteilt wird, nicht lebensgefährlich. Die beiden Gebrüder Grah, von denen der eine tot und der andere verletzt war, hatten sich unter den Trümmern noch die Hände gereicht und hielt der Getötete die Hand seines Bruders fest umschlungen. Ein Landwirt, der sich in der Nähe von Dorperhof auf dem Felde befand, wurde zu Erde geworfen. Sein Pferd und Karren wurde ebenfalls umgeworfen. Eine Frau, die gleichfalls im Felde war, blieb längere Zeit ohnmächtig liegen. Ein Stallgebäude wurde von dem Sturm über 150 Meter fortgetragen und fiel dann zur Erde. Die Obstanlagen von Dorperhof sind total zerstört. Zu Eick schlug der Blitz in einen Apfelbaum und zersplitterte denselben. Einen ziemlich bedeutenden Schaden erlitt auch ein in der Nähe von Schaberg wohnender Hühnerzüchter. Diesem stürzte ein Hühnerhaus ein und wurden unter demselben etwas 200 Hühner, teils wertvolle Rassehühner, begraben. Die sonderbaren und oft launenhaften Verheerungen des Wirbelwindes in seinen Einzelheiten zu schildern, würde zu weit gehen. Neben dem bis jetzt unberechenbaren materiellen Schaden sind hauptsächlich die an ihrem Körper zu Schaden gekommenen Menschen zu beklagen. Die genaue Anzahl der Verletzten ist noch nicht bestimmt festzustellen, die Zahl 25 dürfte aber nicht zu hoch gegriffen sein.

Auf der Unfallstelle in Balkhausen leistete Herr Dr. Kemperdick die erste ärztliche Hilfe. Um den bereits verstorbenen Grah zu Dorperhof bemühte sich zuerst ein zufällig auf dem Ausfluge befindlicher fremder Arzt, bis dann später noch von Solingen Herr Dr. Lohmann und noch einige andere Ärzte eintrafen. Da auch alle Verbindungen, wie Telephonleitungen etc., zerstört waren, mußte man von den alle etwas abgelegenen Orten weite Wege machen, um Hilfe zu erlangen. Sofort wurde die 2. Abteilung der Feuerwehr und späte die gesamte Wehr alarmiert und leistete diese dann nach ihrem Eintreffen ausgezeichnete Dienste. Ebenfalls tatkräftig griff schnell die Heilsarmee ein, sie sorgte für den Toten und soviel sie konnte auch für die Verwundeten, indem sie dieselben auf Krankenwagen ins Krankenhaus einlieferte, überhaupt stellte sich die Heilsarmee in uneigennützigster Weise den vom Unglück Betroffenen zur Verfügung. Einen wirklich bedauernswerten Eindruck machten später die am schlimmsten Betroffenen, als sie ihre Möbel zum Teil aus den Trümmern hervorsuchten und diese in der benachbarten Bienenhalle und in der gesamten Nachbarschaft unterbrachten. Zum Ueberfluß setzte dann später noch ein Gewitter ein und verdarb den Leuten nicht allein viele Möbel, die draußen standen, sondern das Gewitter brachte in verschiedenen abgedeckten Häusern auch die Decken zum Einstürzen und wurden hierdurch noch mehr Verwüstung angerichtet. Trostlos ist überall das Bild der Zerstörung . Überall ein wüstes Chaos.

Das gestrige Unwetter hat das, welches vor 2 Jahren dieselben Orte heimsuchte, in seinen Zerstörungen noch weit übertroffen. Sofort nach Bekanntwerden des Unglücks begab sich Herr Oberbürgermeister Dicke, Herr Polizeiinspektor Kircher und auch Herr Beigeordneter Jöhrens nach Dorperhof. Gestern abend und heute morgen wurden die Unfallstätten von vielen Neugierigen besucht. Die Straßenbahn hatte alle Mühe, die Fahrgäste nach Krahenhöhe zu transportieren und viele mußten den Weg zu Fuß machen. Den so schwer Heimgesuchten wendet sich allgemeine Teilnahme zu und wahrscheinlich wird sich, um die Not zu lindern, ein Hülfskomitee bilden.

In der Fabrik der Firma Joest & Co., Cronenbergerstraße, stürzte ein großer eiserner Schornstein um und durchschlug das Dach der Fabrik. Außer einigen Zertrümmerungen richtete der Koloß keine weiteren Schäden an.

Ebenfalls hat das Unwetter in Remscheid viele Verwüstungen angerichtet. Die Dachpappenfabrik Rebeling & Co. wurde von einem Blitzstrahl getroffen und brannte zum größten Teil nieder. Bei einigen anderen Fabrikanlagen wurden die großen Schornsteine umgeweht. In Cronenberg zündete der Blitz an verschiedenen Stellen.

In und um den Bauernhof Oberbüscherhof, der auf der Grenze zwischen Witzhelden und Leichlingen liegt, hat das gestrige Unwetter auch bedeutenden Schaden angerichtet. Fast sämtliche Obstbäume sind vernichtet und mehrere Gebäude stark beschädigt. Von einer Scheune wurde der gesamte Dachstuhl abgehoben.

Kohlfurtherbrücke, 15. Aug. Die Ehefrau Winter in Altenfeld wurde gestern von einem Blitzschlag getroffen. Der hinzugezogene Arzt, Herr Dr. Jung aus Solingen, stellte eine Lähmung beider Beine und des rechten Armes fest.

Gräfrath, 15. Aug. Gestern hat der Blitz in das Haus der Frau Ww. Puttbach eingeschlagen. Das Feuer wurde jedoch rechtzeitig von einem in einer Scheune beschäftigten Ackerer bemerkt und mit Hilfe der Hausbewohner gelöscht.

Ohligs, 14. Aug. Heute ging hier ein großes Gewitter nieder, das zahlreiche Verwüstungen anrichtete. Der Blitz schlug an verschiedenen Stellen ein, ohne jedoch zu zünden. Das Gewitter war von einem riesigen Sturm begleitet, der namentlich in den Gärten viel Schaden anrichtete.

Opladen, 14. Aug. Bei dem schweren Gewitter, welches heute Nachmittag über die hiesige Gemarkung niederging, bildete sich kurz nach 1/2 4 Uhr eine Windhose, die hier und in den Nachbarorten Angst und Schrecken verbreitete und enormen Schaden verursachte. Schwere Dachziegel prasselten unter furchtbarem Getöse auf die Straßen, doch scheint glücklicherweise niemand dadurch verletzt worden zu sein. Hier wurden namentlich in der Neustadt und an den Eisenbahnhäusern eine große Anzahl von Dächern mehr oder minder angedeckt, Kamine heruntergerissen, das Mauerwerk zerstört, viele Fenster herausgerissen und zertrümmert. Auch an der Fabrik von Halverscheid & Menzen, sowie an der Haupteisenbahnwerkstätte hat die Windhose großen Schaden angerichtet. Die Feuerwehr der Eisenbahnwerkstätte war ausgerückt, um die Trümmer von Dächern und Straßen zu beseitigen. In Quettingen sind durch das Unwetter eine Menge von Obstbäumen total vernichtet worden. An dem vor kaum einen Jahre neu erbauten, großen Tanzsaal des Wirts Friedrichs wurde das ganze Dach abgedeckt.

Soweit die zurückliegende Berichterstattung im Jahre 1906. Der ursprüngliche Zeitungsbeitrag kam ohne Fotos und Zeichnungen aus. Auf nachfolgender Karte habe ich die Zugrichtung (Südwesten -> Nordosten) des Tornados nach den Angaben aus dem Zeitungsartikel eingetragen.

Karte mit eingezeichneter Zugrichtung des Tornados
Zugrichtung des Tornados und Orte der Zerstörung

Postkarte aus dem Hause W. Fülle, gelaufen am 12. Januar 1905, zeigt die noch vorhandene Tannenallee an der Straße von Müngsten nach Remscheid. Rechts im Bild ist das Baumgärtnersche Ausflugslokal zu sehen.

Gruss aus dem Bergischen Land - Müngsten (Verlag Wilhelm Fülle, Barmen)

Ein paar Jahre später verkauft der Verlag Max Wipperling eine Postkarte, die Müngsten einige Jahre nach dem Tornado zeigt.

Das Bergische Land, Morsbachtal, Blick auf Müngsten (Verlag Max Wipperling, Elberfeld, 3572)


©2004-2006 Michael Tettinger
So. 09.05.2004 - So. 13.08.2006